Der Holzschrein in der Wunderblutkirche St. Nikolai, in dem bis 1552 die Hostien aufbewahrt wurden Quelle: pa/ZB/Bernd Settnik

Das „Blutwunder“ von Wilsnack sorgte für lukrativen Boom – und viel Streit

Ein Beitrag von Martin Klemrath auf welt.de. 

Ein enormer Hype, der Faszination und Hoffnung hervorruft, aber auch Ängste, Gier und Neid. Woraufhin Experten (und solche, die sich dafür halten) kontrovers darüber streiten – bis schließlich der Hype fast so schnell wieder abebbt, wie er entstanden ist. Was nach einer typischen Modeerscheinung der überdrehten Gegenwart klingt, hat sich im Mittelalter abgespielt – in einem kleinen Ort im Nordwesten Brandenburgs.

Alles begann im Jahr 1383, als Johannes Calbutz, der Pastor von Wilsnack, behauptete, in den Ruinen seiner Kirche, die in einer Fehde in Brand gesetzt worden war, drei rötlich gefärbte Hostien entdeckt zu haben. Das sprach sich in Windeseile herum und elektrisierte Gläubige, die darin ein „Blutwunder“, die Manifestation des Blutes Christi sahen – und schon setzte der Hype ein.

Sollte der Pfarrer die Hostien wirklich gefunden und nicht einfach eigenhändig mit Blut beschmiert in die Trümmer der Kirche gelegt haben, gäbe es für die rötliche Färbung eine naturwissenschaftliche Erklärung: das Bacterium Prodigiosum (Serratia marcescens), den sogenannten Hostienpilz. Dessen Existenz war im Mittelalter freilich unbekannt, sodass damals die übliche Erklärung für so einen Vorgang eben schnell lautete: ein Wunder!

Bald wurde die Sache zu einem Massenphänomen, und der kleine Ort in der Prignitz, damals eine Gegend, in der die Kirchen arm und viele Geistliche wie Gläubige ungebildet waren, wurde zur Wallfahrtsstätte. Ein Beleg für die große Popularität des „Wilsnack-Laufens“ und das viele Geld, das damit in den Ort gespült wurde, war der rasche Beginn eines Neubaus der Kirche seit 1384, die um einiges größer als der ursprüngliche Bau ausfiel.

Der Neubau der Wunderblutkirche St. Nikolai war weit aufwendiger als die zuvor niedergebrannte Kirche Quelle: pa/dpa/Bernd Settnik

Nun kamen Jahr für Jahr Tausende nach Wilsnack, oft von weit her. Die ganze Stadt lebte von den Pilgerströmen, die zum imposanten Neubau der Wunderblutkirche zogen. Etliche Lokale, Händler und Herbergen standen für zahlungskräftige Kunden aus ganz Europa bereit. Die Stadt blühte auf.

Aber ebenso schnell, wie der Hype entstanden war, hatte Kritik daran eingesetzt: 1405 schrieb der einflussreiche Theologe Jan Hus in Prag eine Schrift gegen das angebliche „Blutwunder“; zwei Jahre zuvor hatte der dortige Erzbischof bereits eine Theologenkommission eingesetzt, die den Vorgang prüfen sollte. Das kam nicht von ungefähr: Vor allem in Böhmen war Wilsnack als Wallfahrtsziel populär – viel Geld floss von dort nach Brandenburg.

Auch rief der Wilsnack-Boom umliegende Gemeinden auf den Plan, die den Zuspruch in ihren eigenen Opferstöcken spürten. Angebliche „Blutwunder“ gab es schließlich an diversen Orten, und entsprechend eine harte Konkurrenz.

Papst Urban VI. unterstützte den Neubau in Wilsnack dennoch mit einem Bauablass. In der entsprechenden Bulle ist von einem „Blutwunder“ noch nicht die Rede. Der Erzbischof von Magdeburg sowie die Bischöfe von Lebus, Brandenburg und Havelberg verliehen einen 40-tägigen Ablass an alle, die nach Wilsnack pilgerten.

In der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde der Kirchen- und Reichsreformer Heinrich Tocke der energischste Gegner der Wallfahrt. Er hatte in Erfurt studiert, dort Theologie gelehrt, und wurde 1426 Domherr in Madgeburg. Jahrelang nahm er am Basler Konzil teil und stellte dort Entwürfe zu Kirchen- und Reichsreformen vor. Der Historiker Hartmut Bookmann (1934 bis 1998) beschrieb ihn als einen Mann, „dem es wirklich auf Reform ankam, und nicht bloß um eine Veränderung von Machtverhältnissen“.

Die immer neuen Wunderstätten waren Tocke ein Dorn im Auge, er witterte Aberglauben und Betrug. 1444 inspizierte er die Wilsnacker Kirche und war alles andere als überzeugt.

„Symptom eines größeren, grundsätzlicheren Konflikts“

Der Streit um das Wilsnacker „Blutwunder“ bekam so Mitte des 15. Jahrhunderts größere Dimensionen, als die Sache bereits mehrere Jahrzehnte existierte. Er geriet nun in die Gemengelage von Debatten um die Fortführung von Kirchenreformen, die nach der Auflösung des Basler Konzils (1431 bis 1449) und nach der Restauration des Papsttums durch Nikolaus V. begonnen hatte. Der Berliner Historiker Bookmann bewertete den Streit über Wilsnack entsprechend als Symptom eines größeren, grundsätzlicheren Konflikts „um Strukturen der Kirche überhaupt, ein Testfall“ in der Zeit vor der Reformation, die dann 1517 mit Martin Luthers Kritik am Ablasshandel ihren Ausgang nahm.

Zu den Gegnern Tockes und den glühenden Verteidigern von Wilsnack gehörte der Bettelmönch Matthias Döring, ein Franziskaner. Die Theologen dieses Ordens bejahten die Möglichkeit eines „Blutwunders“, während die Dominikaner (der andere große Bettelorden) diese verneinten.

Ordenszugehörigkeit war also ein weiterer Faktor des Streits, der viele Facetten und Fraktionen hatte. Ebenso waren verschiedene Landesherren involviert. Kurfürst Friedrich II. von Brandenburg, zu dem Döring ein vertrautes Verhältnis hatte, war einer der Hauptnutznießer der Wilsnacker Einnahmen.

Noch heute ist die Wunderblutkirche St. Nikolai ein Wahrzeichen Wilsnacks Quelle: pa/ZB/Bernd Settnik

Tocke gelang es 1451 mit einer mehrstündigen Rede auf dem Magdeburger Provinzialkonzil, den Humanisten, Legaten und Kardinal Nikolaus von Cues von seiner Sicht zu überzeugen. Tocke behauptete auch, Pfarrer Calbutz habe nach seinem Hostienfund in Wilsnack im Jahr 1411 in Magdeburg den dortigen Franziskanern, denen sehr teure Kirchenbaukosten bevorstanden, verdächtigerweise angeboten, ihnen eine noch bessere Wallfahrt zu verschaffen, als es ihm in Wilsnack schon gelungen war.

Ein paar Tage später verbot der Kardinal die Verehrung von Bluthostien. Der Kurfürst von Brandenburg und der Bischof von Havelberg ignorierten das Dekret des Kardinals aber; es folgten wechselseitige Exkommunikationen. Schließlich musste der Papst höchstpersönlich entscheiden, wozu Kurfürst Friedrich II. anlässlich seiner eigenen Pilgerfahrt nach Jerusalem in Rom Station machte. Mit Erfolg: Nikolaus V. kassierte das Urteil. Und so blieb Wilsnack neben Aachen noch einige Zeit das damals bedeutendste deutsche Wallfahrtsziel.

Der geöffnete, seit 1552 leere Blutwunderschrein Quelle: pa/dpa/Bernd Settnik

Doch im 16. Jahrhundert nahm die Zahl der Wallfahrer im Zuge der Reformation ab. Am Ende verbrannte 1552 der erste lutherische Wilsnacker Pastor Joachim Ellefeld die bereits reichlich zerfallenen Hostien vor Zeugen – und handelte sich damit eine Landesverweisung ein.

Der Grund für Wallfahrten nach Wilsnack war damit schlagartig entfallen, und der Ort geriet bald weitgehend in Vergessenheit. Heute ist er vor allem wegen der dortigen Salztherme bekannt, heißt seit 1929 auch Bad Wilsnack. Doch Kurgäste besuchen immer noch die evangelische Wunderblutkirche St. Nikolai, wo der hölzerne Wunderblutschrein zu sehen ist, in dem einst die rötlichen Hostien lagen.

Nach Aachen wird derweil weiter gepilgert. So ist die Stadt im Juni 2023 wieder zehn Tage lang Schauplatz einer religiösen Wallfahrt, die auf das Jahr 1349 zurückgeht und alle sieben Jahre stattfindet. Vom 9. bis zum 19. Juni würden rund 100.000 Teilnehmer erwartet, sagte der Wallfahrtsleiter, Dompropst Rolf-Peter Cremer. Das Treffen der katholischen Gläubigen hätte ursprünglich schon 2021 stattfinden sollen, wurde aber wegen Corona verschoben.

Im Zentrum der Wallfahrt stehen Stoff-Reliquien, die seit der Zeit von Karl dem Großen (748-814) im Aachener Dom aufbewahrt werden. Sie werden nur alle sieben Jahre gezeigt. Die Reliquien werden als Windeln von Jesus, Kleid Mariens, Enthauptungstuch Johannes des Täufers und Lendentuch Christi verehrt. Untersuchungen ergaben, dass die Stoffe in den Jahren zwischen 300 und 500 entstanden sind.